Ab morgen früh wird die letzte wichtigste Verbindung für russisches Erdgas nach Deutschland gekappt. Jährliche Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1 machen dies notwendig – das hat der Betreiber längst angekündigt.
Zehn Tage (bis 21. Juli) sind für die Wartungsarbeiten angesetzt – doch die Bundesregierung befürchtet nun, dass der Reparaturstopp zu einer dauerhaften Stilllegung der Pipeline führen könnte.
Macht Putin endgültig Gas?
Bundesfinanzminister Robert Habeck
Foto: Fabian Sommer/dpa
► Finanzminister Robert Hambeck (52, Grüne) rechnet mit dem Schlimmsten. Der Vizekanzler äußerte starke Bedenken, dass Putin das Projekt nutzen könnte, um die Gasförderung nach Deutschland ganz einzustellen. Im Deutschlandfunk sprach er am Samstag von einem „Alptraumszenario“: „Alles ist möglich, alles kann passieren. (….) Wahrscheinlich wird wieder mehr Gas fließen, noch mehr als zuvor. Aber es kann auch passieren, dass nichts reicht.”
Habeck weiter: „Ganz ehrlich, wir müssen uns immer auf das Schlimmste einstellen und ein bisschen für das Beste arbeiten.“
Bereits im Juni hatte Gazprom das Liefervolumen durch die über 1.200 km lange Pipeline von Russland nach Mecklenburg-Vorpommern deutlich reduziert – derzeit ist die Leitung laut Bundesnetzagentur nur noch zu etwa 40 Prozent ausgelastet.
Die reduzierte Liefermenge erklärt sich auch durch den Ausfall einer Turbine von Siemens Energy, die nach Abschluss der Wartung aufgrund von Sanktionen nicht mehr aus Montreal, Kanada, nach Russland geliefert werden konnte.
Die Erdgasempfangsstation der Pipeline Nord Stream 1 in Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern)
Foto: Jens Büttner/dpa
Kanada liefert mit Ausnahme Basisturbinen
Doch nun bekommt der Westen diesen möglichen Vorwand für einen kompletten Lieferstopp: Kanada hat angekündigt, trotz Sanktionen gegen Russland die Lieferung aus Montreal zuzulassen. Auch interessant Kanada wird Siemens Canada eine „vorübergehende und widerrufliche Lizenz“ erteilen, sagte der Minister für natürliche Ressourcen, Jonathan Wilkinson, am Samstag. Die Turbine soll von Kanada zunächst nach Deutschland und dann nach Russland geliefert werden. Die Nord Stream AG plant nach eigenen Angaben, die Stromversorgung, den Brandschutz und das Gas sowie einige Ventile zu überprüfen und gegebenenfalls zu reparieren oder zu kalibrieren. Es wird auch Software-Updates geben. Offshore-Pipelines blieben unter Druck. In früheren Jahren dauerte eine solche Aufgabe zwischen 10 und 14 Tagen. Allerdings wichen sie teilweise auch von der gesetzten Frist ab.
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Gearbeitet wird laut Bundesnetzdienst nicht direkt an der Leitung, sondern an den Verdichtungsstationen, beispielsweise in Lubmin. In den Modellrechnungen geht die Behörde von bis zu 14 Tagen aus, hat aber bereits einen Zeitpuffer eingerechnet. Unter normalen Umständen sollten die Arbeiten jedoch innerhalb der geplanten Frist abgeschlossen werden können. Nach den Modellen der Behörde könnte ein dauerhafter Ausfall im Winter zu Gasengpässen in Deutschland führen. Auch russische Gaslieferungen über andere Leitungen nach Deutschland waren zuletzt reduziert worden. Gleichzeitig haben mehrere europäische Länder bereits aufgehört, Erdgas aus Russland zu beziehen. Seit Beginn der russischen Invasion gilt Europas Erdgasversorgung aus Russland als gefährdet.
Industrie in großer Sorge
Neben privaten Verbrauchern macht sich auch die deutsche Industrie Sorgen über die anstehenden Wartungsarbeiten. Besonders in der energiehungrigen chemischen und pharmazeutischen Industrie sind Gasknappheitssorgen groß. Laut Verband der Chemischen Industrie (VCI) ist die Branche mit einem Anteil von 15 % der größte deutsche Erdgasverbraucher. Gas wird als Energieträger und als Rohstoff für die Weiterverarbeitung zu Produkten wie Kunststoffen, Medikamenten oder Düngemitteln benötigt. Die Erdgaspreise seien derzeit „atemberaubend“ hoch, sagte VCI-Präsident Christian Kullmann am Mittwoch. Um überlebensfähig zu bleiben, stockt die Industrie auf, um die Kunden im Krisenfall weiter beliefern zu können. VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup sagte: „Wir bereiten uns darauf vor, Erdgasimporte zu begrenzen oder gar einzustellen.“ Unternehmen in Süd- und Südostdeutschland werden zuerst unter dem Leitungssystem leiden. Im Norden und Westen hingegen ist die Versorgung über Häfen einfacher. Aus diesem Grund bereiten sich große Unternehmen wie BASF, Merck und ThyssenKrupp schon länger auf den Ernstfall vor. Ein ThyssenKrupp-Sprecher sagte, es gebe “sehr wenige” Möglichkeiten, Gas in der Produktion einzusparen. Auch der Übergang von Erdgas zu Öl oder Kohle ist nicht oder nur in vernachlässigbarem Umfang möglich. “Versorgungsbeschränkungen sind auch mit Produktionsbeschränkungen verbunden, aber wir können sie bis zu einer bestimmten Grenze durchsetzen.” Allerdings ist eine Mindestabnahme notwendig, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Ansonsten sind Betriebsstillstände und technische Schäden nicht auszuschließen.
Städte planen bereits Notunterkünfte für Alte und Arme
Aufgrund des bevorstehenden Tankstopps bereiten sich immer mehr Städte in Deutschland bereits auf die Notsituation vor. ▶︎ Beispiel Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz): Hier werden Räume geschaffen, in denen sich Bürger, die sich keine Wärme mehr leisten können, warm halten können. „Wir bereiten uns gerade auf alle Notfallszenarien vor Herbst und Winter vor“, sagte Oberbürgermeisterin Jutta Steinruck (59, SPD). Als zentrale Aufwärmstation dient die Friedrich-Ebert-Halle. Die Mehrzweckhalle, in der zuvor Sportveranstaltungen, Ausstellungen und Konzerte stattfanden, wurde bereits während der Corona-Pandemie als Impfzentrum genutzt. Statt Injektionen gibt es künftig kostenlose Wärme. Auch in anderen Städten sind sogenannte Thermalinseln geplant. Lesen Sie hier mehr über die Designs!