Menschen sind Landlebewesen, um mit der Unterwasserwelt fertig zu werden, müssen wir uns also mit Technologie ausstatten: Tauchflaschen lassen uns atmen, Neoprenanzüge halten uns warm und Taucherbrillen lassen uns sehen. Um eine weitere Schwäche unter Wasser zu kompensieren, gibt es bislang jedoch kaum wirksame Lösungen: Unsere Hände haben meist Mühe, nasse Gegenstände zu greifen. Allerdings ist diese Fertigkeit gefragt: Rettungstaucher, Unterwasserarchäologen und viele andere „Wasserhandwerker“ müssen mit rutschigen Gegenständen oder Lebewesen hantieren. Um sie dicht zu halten, muss der Griffdruck oft stark erhöht werden. Aber empfindliche Gegenstände oder Lebewesen können natürlich zerstört werden.
Acht bewaffnete Standarten im Blick
Das Forschungsteam um Michael Bartlett von der Virginia Tech in Blacksburg widmet sich nun der Entwicklung eines Konzepts, das es Menschen ermöglicht, sensibler auf Wasser zu reagieren. Wie so oft in der Technik ließen sich Wissenschaftler von der Natur inspirieren. Besonders im Fokus standen die Meister des Greifens im Reich Poseidons: Oktopusse. Die Schlüsselelemente ihrer Fähigkeiten sind bekanntermaßen Saugnäpfe, die von einem ausgeklügelten Muskel- und Nervensystem gesteuert werden. Nachdem die breite äußere Lippe einer Tasse mit einer Oberfläche in Kontakt kommt, werden die Muskeln im abgedeckten Bereich hinter der Lippe aktiviert. Auf diese Weise können die Saugnäpfe Unterdruck mit Haftkraft bereitstellen. „Interessant ist, dass Oktopusse ihre zahlreichen Saugnäpfe steuern, indem sie Informationen von verschiedenen Sensoren verarbeiten. Der Oktopus kombiniert also Traktionstechnologie, Sensoren und Steuerungen, um Unterwasserobjekte zu manipulieren“, sagt Bartlett. Um aus dem Modell ein Handschuhkonzept zu machen, konstruierten die Forscher zunächst ein leistungsstarkes Saugnapfsystem: Das sind flexible Gummigriffe, die mit weichen Membranen ausgestattet sind und pneumatisch betätigt werden können. Der Oktopus-Variante kamen die Entwickler sehr nahe: Die Saugnapf-Idee lässt sich an ebenen und gewölbten Oberflächen anbringen. Nach der Entwicklung dieses Haftsystems standen die Wissenschaftler vor der Herausforderung, dem Handschuh Sensibilität zu verleihen. Dazu statteten sie es mit einer Reihe sogenannter Mikro-LIDAR-Näherungssensoren aus. Diese optischen Sensoren können erkennen, wie nahe ein Objekt ist.
Künstlicher Saugnapf und Nervensystem
Die Saugnäpfe und LIDAR wurden dann über einen Mikrocontroller verbunden, um die Objekterkennung mit der Betätigung der Saugnäpfe zu verknüpfen und das Nerven- und Muskelsystem eines Tintenfischs nachzuahmen. Anschließend integrierten die Wissenschaftler alle Elemente in einen Neoprenhandschuh. An jeder Fingerkuppe dieses „Octa-Handschuhs“ befindet sich ein Saugnapf mit Sensoren. „Man muss nur die Hand in Richtung eines Objekts bewegen und der Handschuh übernimmt automatisch die Greifaufgabe: Die Elektronik lässt sich schnell aktivieren und löst den Griff. Dadurch können Sie nasse oder untergetauchte Gegenstände greifen, ohne sie zu zerquetschen. Und das alles, ohne dass der Benutzer einen einzigen Knopf drücken muss“, erklärt Bartlett. Diese Leistungsfähigkeit ihres Konzepts konnten die Forscher in einer Versuchsreihe unter Beweis stellen: Mit dem Handschuh lassen sich Gegenstände mit unterschiedlichsten Eigenschaften sanft anheben oder greifen. Halten muss man sie nicht unbedingt: Kleinere Gegenstände lassen sich mit dem Saugnapf mit nur einem Finger aufnehmen – für größere werden dann mehr Einheiten benötigt. „Diese Fähigkeiten ahmen die komplexen Manipulations-, Wahrnehmungs- und Kontrollfähigkeiten von Kopffüßern nach“, sagt Co-Autor Ravi Tutika von Virginia Tech. Die Wissenschaftler betonen jedoch, dass weitere Entwicklungsarbeit notwendig ist, um der hochkomplexen Leistungsfähigkeit physikalischer Modelle immer näher zu kommen. „Unser Ansatz ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, aber wir müssen noch viel über Tintenfische lernen, bevor wir die volle Fangfähigkeit der Natur erreichen können“, sagte Tutika. Doch den Wissenschaftlern zufolge zeichnet sich bereits jetzt interessantes Potenzial für die Technologie ab: Ein Oktopus-Handschuh könnte Wasser-„Handwerkern“ helfen, sensibler zu sein, ihre Arbeit zu erleichtern und empfindliche Gegenstände oder Lebewesen beim Umgang zu schützen. Mögliche Anwendungen könnten auch in der Robotik liegen: Wissenschaftler sagen, dass technische Systeme – zum Beispiel im Gesundheitswesen oder in der Fertigung – das Oktopus-Konzept nutzen könnten, um nasse Gegenstände besser in den Griff zu bekommen. Quelle: Virginia Tech, Sonderartikel: Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.abq1905 Video © Virginia Tech © wissenschaft.de – Martin Vieweg