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Denn die „zweite Hauptstrecke“ in München – ein neuer S-Bahn-Tunnel, der viele Verkehrsprobleme lösen soll – wird weitaus teurer und komplizierter als gedacht. 7,2 Milliarden Euro Kosten, fast doppelt so viel wie zuletzt veranschlagt, und Bauarbeiten bis 2037, neun Jahre länger als geplant: Das sind die Schätzungen des bayerischen Verkehrsministeriums, die vor zwei Wochen für große Empörung in Bayern sorgten. Quelle: © Openstreetmap Contributors, WELT-Infografik Was jetzt passiert, ist ein echtes politisches Pokerspiel um die Fragen: Wer ist schuld? Und vor allem: Wer soll die Mehrkosten tragen? An der zweiten Stammstrecke sind der Freistaat Bayern, die Landeshauptstadt München, die Deutsche Bahn, die das Projekt umsetzt, und der Bund, der es maßgeblich mitfinanziert, beteiligt. Die Stadt München tritt meist in der Zuschauerrolle auf, während Bayern und Berlin mit dem Finger aufeinander zeigen.

„Herr Wissing ist geizig“, monierte die Landesregierung

„Die Bundesregierung kann sich der Verantwortung nicht entziehen“, sagte Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) am Dienstag in München. Am 30. Juni hatte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) eine Krisensitzung zu dem Thema kurzfristig abgesagt. Auf Nachfrage sagte ein Sprecher von Wissing, die Verantwortung für das Projekt liege beim Freistaat Bayern und der Deutschen Bahn als Projektentwickler. „Für mich ist das sehr, sehr schlechter Stil, und ich kann sagen: Herr Wissing sticht“, reagierte Bayerns Verkehrsminister Bernreiter. Die Bayern brauchten “weder Verzögerungstaktik noch Ablenkungsmanöver, sondern endlich Klarheit”, wie es jetzt weitergehe. Interview Allerdings ist es seine Partei, die von Markus Söder geführte CSU, die anderen ein Ablenkungsmanöver vorwirft. Sebastian Körber (FDP), Vorsitzender des Verkehrsausschusses im bayerischen Landtag, bezeichnet die Kommunikation der CSU als “falsches Spiel”. Das Projekt sei eindeutig Staatsangelegenheit, „und das weiß auch die CSU“. Zudem stellte die CSU zwölf Jahre lang den Bundesverkehrsminister. Körbers Theorie: Die Landesregierung habe das Projekt nicht gesteuert, die Mehrkosten nicht gesehen oder verschwiegen und im Haushalt nicht das nötige Geld bereitgestellt. Jetzt werde “ein sehr billiger Versuch unternommen, die Verantwortung zu leugnen”. Die zweite Stammstrecke befindet sich seit 2017 im Bau, erste Planungen laufen seit 2000. Das Projekt soll ein grundlegendes Problem des öffentlichen Nahverkehrs in der Region lösen: Bisher führen alle S-Bahn-Linien durch die Münchner Innenstadt durch einen einzigen Tunnel geführt. Dieser Engpass ist die meistbefahrene Bahnstrecke Europas – und wenn es hier häufiger zu Störungen kommt, leiden täglich 840.000 S-Bahn-Fahrgäste unter Verspätungen und Zugausfällen. Eine S-Bahn fährt an der Baustelle vorbei Quelle: image alliance/dpa Quelle: image alliance/dpa Der Vertrag von 2016, der die Kostenteilung zwischen Bund und Bayern regelt – ein dreiseitiges Dokument, das WELT vorliegt – wurde von zwei CSU-Politikern unterzeichnet, dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer und dem damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt. . Damals wurde vereinbart, dass der Bund 60 Prozent der „förderfähigen“ (also projektspezifisch anfallenden) Kosten übernimmt. Ob das auch für die anfallenden Mehrkosten gilt, muss er nun verhandeln – diesmal aber nicht mehr parteiintern. Bayerns Verkehrsminister Bernreiter fordert eine offizielle Bestätigung der Zusage, doch aus Berlin kommen widersprüchliche Stimmen.

Die Absage des Projekts wird offen diskutiert

Während sich Bund und Bayern duellieren, hält sich die Deutsche Bahn Augen und Ohren zu – so scheint es. Zu den Zahlen des bayerischen Verkehrsministeriums, die auf eigenen Schätzungen beruhen, äußerte sich das Unternehmen nicht. Auf Rückfragen antwortet die Bahn mit dem Hinweis, dass die „Fahrplan- und Kostenplanungsprüfung“ noch nicht vollständig abgeschlossen sei, man sich also „zu einem geänderten Fahrplan- und Kostenrahmen nicht öffentlich äußern“ könne. Das Unternehmen hatte eine Einladung zu einer Ratsdebatte zu diesem Thema abgelehnt. „Ich finde es beängstigend, wie sie dort mit uns umgehen“, klagte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) im Bayerischen Rundfunk. Offiziell wurden bisher keine konkreten Gründe für die Kostenexplosion bekannt gegeben. Inoffiziell ist unter anderem von diversen Umgestaltungen und teilweise noch fehlenden Baugenehmigungen die Rede. Auf Anfrage von WELT teilte das Landesverkehrsministerium mit, dass „erhöhte Baukosten und Lieferkettenprobleme als allgemeine Rahmenbedingungen bekannt sind“. Zu den konkreten Hintergründen fordern sie “endlich Klarheit von der Deutschen Bahn”. Fünf Menschen starben Bauarbeiten vom 25. Juni
FDP-Mann Körber glaubt nicht an die Ignoranz des bayerischen Verkehrsministeriums. Am Dienstag lud er Verkehrsminister Bernreiter und Klaus-Dieter Josel, einen Vertreter des Konzerns Deutsche Bahn AG, in den Ausschuss ein. Bernreiter wich kritischen Fragen mit dem Hinweis aus, er sei erst seit Februar im Amt und beharrte auf der geforderten Finanzierungszusage aus Berlin. Bahnmann Josel bekräftigte, dass noch keine konkreten Kosten kalkuliert werden können. Beide betonten die Bedeutung einer konstruktiven Zusammenarbeit aller. Allerdings wird nun offen über ein Ende des Projekts diskutiert – auch wenn CSU und Bayerns Ministerpräsident Söder einen Baustopp entschieden ablehnen. Bis Oktober werden die Ergebnisse einer neuen Kosten-Nutzen-Studie vorliegen. Schon jetzt ist klar, dass das Fiasko um die zweite Stammstrecke eine große Bedrohung für andere Projekte in Bayern darstellt – und damit auch das bayerische Selbstverständnis, dass Planungsfehler und Peinlichkeiten nur in Berlin passieren. Hier können Sie sich unsere WELT-Podcasts anhören Zur Anzeige der eingebetteten Inhalte ist Ihre widerrufliche Einwilligung zur Übermittlung und Verarbeitung personenbezogener Daten erforderlich, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung benötigen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem Sie den Schalter auf „on“ stellen, erklären Sie sich damit einverstanden (jederzeit widerrufbar). Dies umfasst auch Ihre Zustimmung zur Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten an Drittländer, einschließlich der USA, gemäß Artikel 49 Absatz 1 Buchstabe a DSGVO. Hier finden Sie weitere Informationen dazu. Ihre Einwilligung können Sie jederzeit über den Schalter und Datenschutz unten auf der Seite widerrufen.