Europa hat Angst. Hat es oder nicht? Stellt der russische Autokrat Wladimir Putin dem Westen wirklich die Gaslieferungen ab? Er hat sie bereits erwürgt. Und jetzt das: Seit Montag ist die Pipeline Nord Stream 1 stillgelegt – die wichtigste Verbindung für russisches Gas nach Deutschland. Grund dafür sind laut Moskau Wartungsarbeiten, die bis zum 21. Juli andauern werden. Allerdings verdichten sich die Hinweise, dass Russland den Gashahn aus politischen Gründen auch nach Ende der Unterhaltsarbeiten geschlossen halten könnte – mit Folgen für die Schweiz. Eine vertrauliche Analyse des Bundesnachrichtendienstes (NDB) zeigt, dass dieses Szenario realistisch ist. Das vierseitige Dokument, das am SonntagsBlick abrufbar ist, trägt den Titel: “Der Kreml führt einen Wirtschaftskrieg gegen die EU.” Darin schreiben Geheimdienstmitarbeiter: “Eher ist es laut NDB, dass Russland die Gaslieferungen nach Europa weiter drosselt.” Mehr noch: Auch eine komplette Lieferunterbrechung sei „grundsätzlich möglich“. Diese Option wird “nach einem zuverlässigen Geheimdienstbericht” in der russischen Präsidialverwaltung geprüft. Es könnte ins Spiel kommen, wenn Russland große Gebietsverluste in der Ukraine erleidet. Klar ist: Wenn Putin den Erdgasfluss stoppt, hätte das auch für die Schweiz weitreichende Folgen. Etwa drei Viertel des in Deutschland verbrauchten Erdgases werden über Deutschland importiert. 2021 stammten 43 Prozent des hier verbrauchten Erdgases ursprünglich aus Russland. Das könnte Sie auch interessieren
Der Großteil wird mit fossilen Brennstoffen beheizt
Der NDB warnt in seiner Analyse: „Im schlimmsten Fall müssten Gasquoten verhängt werden, wenn die russischen Lieferungen reduziert oder gestoppt würden. Dies könnte zu einer Kettenreaktion führen. Schweizer Unternehmen könnten in Bedrängnis geraten.» Die Gasknappheit wird auch Privatpersonen treffen. Fast 60 Prozent aller Wohngebäude in der Schweiz werden mit Erdgas oder Öl beheizt. Die Bundesregierung arbeitet kontinuierlich daran, die Energieversorgung für den Winter zu sichern. „Wir wollen uns heute vorbereiten und eine mögliche Krise antizipieren“, sagte Finanzminister Guy Parmelin. Simonetta Sommaruga forderte alle auf, gemeinsam für die Energiesicherheit zu sorgen: Bund, Industrie und Kantone. Energieminister: “Jetzt geht es um den Punkt.” Die Bundesregierung hat gemeinsam mit der Energiewirtschaft eine Idee entwickelt. Dieses sieht vor, dass die fünf Schweizer Regionalversorger Reserven bilden und zusätzliche nicht-russische Gaslieferungen ins Ausland sichern. Gespräche über Abkommen mit Nachbarländern sind bereits im Gange. Darüber hinaus plant die Bundesregierung eine Sensibilisierungskampagne in Öffentlichkeit und Wirtschaft, um einfach und schnell umsetzbare Energiesparmaßnahmen zu vermitteln. Die Aktion startet im Herbst – kurz vor der Heizsaison. Außerdem müssen Dual-Fuel-Systeme, die mit Öl und Erdgas betrieben werden können, auf Öl umgestellt werden. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, sind strenge Einschränkungen erforderlich. Wie der Strom bei Engpässen verteilt wird, haben die Behörden bereits festgelegt: Der Bundesrat will dann den Betrieb von Hallenbädern, Skiliften oder Leuchtreklamen verbieten. Reicht das nicht aus, müssen Großkunden ihren Verbrauch um 20 % reduzieren.
Industrie zuerst
Bei Erdgas stehen die Details einer möglichen Freisetzung noch nicht fest. Derzeit arbeitet das Volkswirtschaftsdepartement an einer Quoten-Idee – der Bundesrat soll im August darüber entscheiden. Fest steht: Als erstes müssen wir in der Branche sparen. Ein Verteilrennen ist geplant. Frank Ruepp, Präsident der Interessengemeinschaft der energieintensiven Industrien (Igeb), die rund 16 Prozent des gesamten Industriegases in der Schweiz verbraucht, sagte vergangene Woche gegenüber der Sonntagszeitung: „Haushalte dürfen nicht privilegiert werden.“ Privatpersonen sollten sich unbedingt stärker an Energiesparbemühungen beteiligen: „Die Industrie darf nicht heruntergefahren werden, während die Heizung in den Wohnungen läuft.“ Ruepp warnt: „Ohne Benzin steht alles still.“ Dann müssten sie ganze Produktionen stilllegen. Papier beispielsweise kann nur mit voller Kapazität produziert werden, weil die Prozesse extrem energieintensiv sind. Wladimir Putin ist der kurzfristige Nutznießer der Energieknappheit in Europa und der möglicherweise daraus resultierenden Wirtschaftskrise. NDB in seiner Analyse: “Eine Wirtschaftskrise könnte von der russischen Führung propagandistisch ausgenutzt werden.”