Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren, glaubte Karl Lagerfeld – doch das gilt nicht für Paige Mycoskie. Die Surferin aus Kalifornien ist eine der reichsten Frauen Amerikas, dank ihrer Liebe zu Schlabberlooks und dem Kultfilm „Top Gun“. Wenn es jemanden gibt, der den Geist von Südkalifornien verkörpert, dann ist es Paige Mycoskie. Die blauäugige, sonnengeküsste Aviator-Nation-Gründerin mit den gewellten blonden Haaren sieht in jedem Moment aus, als wäre sie gerade vom Surfbrett gestiegen. „Im Wasser zu sein spielt für mich eine große Rolle, ich bin vom Sternzeichen Fisch!“, lacht Mycoskie, als sie in einem Aviator-Nation-Laden in Austin, Texas, ankommt. Hier besitzt sie auch ein Haus. Sie ist zwar mehr als 1.000 Meilen vom Pazifik entfernt, aber sie trägt ein halb aufgeknöpftes Hawaiihemd, zer­rissene Jeans und (natürlich) eine dunkel getönte Aviator-Sonnenbrille. An die Wände des Shops sind Surfbretter, Wasserski und Jimi-Hendrix-Poster genagelt; alles Dinge, die sie sammelt. Aber man sollte sich von ihrem entspannten Look und dem lockeren Gespräch nicht täuschen lassen. Die 42-Jährige hat sich vom Zusammennähen von T-Shirts auf ihrem Küchentisch in Venice Beach vor 16 Jahren bis zur Leitung einer der angesagtesten Modemarken des Landes hochgearbeitet, die besonders in der Tiktok-Generation beliebt ist. Aviator Nation ist bekannt für seine teuren Smiley-Sweatpants (160 US-$) sowie seine Kapuzenpullover mit Regenbogenstreifen im Retro-Look (190 US-$) und erlebte während der Pandemie einen wahren Boom, als Teenager und Twentysomethings ihre Designer-Denim gegen weiche Sweatshirts tauschten. Das Unternehmen steigerte seinen Umsatz von 70 Mio. US-$ im Jahr 2020 auf 110 Mio. US-$ im Jahr 2021 und rechnet bis 2023 mit mindestens einer Verdoppelung dieser Zahl; die Bruttogewinnspanne wird auf über 70 % geschätzt. Aviator Nation, das seinen Hauptsitz nach wie vor in Los Angeles hat, hat sich so gut entwickelt, dass Mycoskie, die 100 % der Anteile hält, sich selbst im vergangenen Jahr eine Dividende von 47,5 Mio. US-$ ausgezahlt hat – ihre erste Divi­dende überhaupt. Forbes schätzt, dass Mycoskie 350 Mio. US-$ schwer ist (sie sagt übrigens, die Zahl sei mindestens doppelt so hoch) – sie hat ­gerade ihr neuntes Anwesen gekauft, ein 15 Mio. US-$ teures Haus am See in Austin. Zu ihrem Portfolio gehören auch Häuser in Malibu und Venice Beach, zwei Strandvillen in Marina del Rey und ein Ski-Chalet in Aspen. Ein Großteil ihres finanziellen Erfolgs ist darauf zurückzuführen, dass Mycoskie keine Investitionen von außen zuließ, sondern sich stattdessen auf erweiterte Kreditlinien verschiedener Banken, darunter Wells Fargo und Frost Bank, verließ – 8.000 US-$ im Jahr 2006, 35.000 US-$ im Jahr 2007 und 100.000 US-$ im Jahr 2009 –, um das Geschäft von Anfang an auszubauen. „Wenn ich Geld von jemandem annehmen würde, müsste ich jemandem etwas schulden, und das hätte ich nicht unter Kontrolle. Ich hätte nicht die Freiheit, die ich brauche, um das zu ent­werfen, was ich entwerfe“, sagt Mycoskie. „Um kreativ zu sein, darf man keinen Druck haben.“ Jedes Kleidungsstück von Aviator Nation wird von Mycoskie entworfen und von Menschen, nicht von Maschinen, (hand-)gefertigt, die in der Fabrik des Unternehmens in Huntington Park einen Mindestlohn von 17 US-$ pro Stunde erhalten. „Ich habe schon früher Assistenz­designer eingestellt, aber das hat mir nie gefallen“, sagt sie. Die Produktion vor Ort zu halten hat es Aviator Nation auch ermöglicht, sich fast vollständig von der Krise in der Lieferkette abzuschirmen, die viele Konkurrenten erschüttert hat. Aber die Preise von Aviator Nation, die dreimal so hoch sind wie jene für etwa eine Adidas-Jogginghose, lassen aufhorchen. Alixandra Barasch, Professorin für Marketing an der Stern School of Business der NYU, sagt, dass die Marke zum Teil wegen der ausgefallenen Preise erfolgreich sei: „Aus der Sicht derjenigen, die es sich leisten können, können sie damit nicht nur Wohlstand signalisieren, sondern auch andere Werte wie ,Ich bin entspannt‘“, sagt Barasch. Die wenigen Models, die auf der Website von Aviator Nation zu sehen sind – überwiegend weiß, schlaksig und sehr durchtrainiert –, haben den gleichen unauf­geregten, sportlichen Surfer-Stil. Mycoskie ihrerseits verteidigt ihre Preise als das Resultat hochwertiger Stoffe, der Komplexität der handgestickten Designs (die meisten Bekleidungsunternehmen verwenden computergenerierte Grafiken) und der Tatsache, dass alles in den USA hergestellt wird. Auch wenn die Umsätze steigen, hält My­coskie an ihrem Geschäftsplan fest. Sie hat die Alternative gesehen: Ihr älterer Bruder Blake, 45, gründete 2006, im selben Jahr, in dem sie Aviator Nation aus der Taufe hob, das Schuhunternehmen Toms, das auf Spendenbasis arbeitet. Kurioserweise kamen die beiden sogar am selben Tag auf ihre Geschäftsideen und Paige entwarf das Toms-Logo. Das „One for One“-Spendenmodell, bei dem Toms für jeden verkauften Schuh ein Paar verschenkte, machte Blakes Unternehmen sehr schnell sehr erfolgreich. Bain Capital zahlte ihm 2014 angeblich 300 Mio. US-$ für eine 50-%-Beteiligung; aber der Reiz des Neuen verflog bald, und die Bemühungen um eine Diversifizierung scheiterten. Im Jahr 2019 übernahmen Gläubiger Toms, einschließlich Blakes Anteil. Er verließ das Unternehmen noch im selben Jahr. Der Flagship-Store in der Nähe von Paiges auf dem Abbot Kinney Boulevard in Venice Beach wurde im Januar geschlossen, aber das Unternehmen ist immer noch im Geschäft. „Obwohl wir unsere Unternehmen zur gleichen Zeit gegründet haben und obwohl wir ­Geschwister sind, hat sie das alles allein geschafft“, sagt Blake, der jetzt in Costa Rica lebt und sich eine Auszeit nimmt, um sich auf seine Familie zu konzentrieren. „Vor allem, wenn dein Unternehmen so groß geworden ist wie ihres, sagen dir alle, du musst diese Führungskräfte einstellen, du musst all diese Investoren ins Boot holen. Aber sie bleibt einfach dem treu, was sich für sie und ihren Instinkt richtig anfühlt. Das ist etwas, was ich bei Toms gerne besser gemacht hätte.“ Trotz der auffälligen kalifornischen Akzen­tuierung liegen Myscoskies Wurzeln tatsächlich in Texas, wo sie in der an Dallas angrenzenden Stadt Arlington in einer Familie von Sportlern mit einer kreativen Ader aufwuchs. Ihre Mutter, eine ehemalige Aerobic-Trainerin, schrieb gesundheitsorientierte Kochbücher; ihr Vater war in den 1980er- und frühen 90er-Jahren Mannschaftsarzt der Baseballmannschaft Texas Rangers. Erst im Alter von 22 Jahren machte sich Mycoskie schließlich auf den Weg nach Kalifor­nien, nachdem sie zusammen mit Blake an der zweiten Staffel von „The Amazing Race“ teil­genommen hatte, einer CBS-Abenteuer-Reality-Show, bei der es darum geht, um die Welt zu reisen und sich albernen Herausforderungen zu stellen (etwa einen Baum in Rio de Janeiro zu finden, der „Fat Maria“ genannt wird, oder einen Frachtkran in Hongkong zu bedienen) und dabei eine Mio. US-$ zu gewinnen. Das Bruder-Schwester-Duo, wie sie genannt wurden, belegte den dritten Platz, was zu einer Pressetour durch Los Angeles führte. „Ich werde nie vergessen, wie ich zum Strand ging und Leute sah, die Rollerblades oder Rad fuhren, Frisbee und Volleyball spielten und surften, und ich dachte: ,Oh mein Gott, das ist mein Traum!‘“, erinnert Paige sich. Sie brach ihr Journalismusstudium an der Ari­zona State University ein Semester vor dem Abschluss ab und zog nach Hollywood, wo sie einen Job bei CBS annahm, um beim Casting für „Survivor“ zu helfen, einer weiteren erfolgreichen Reality-Show des Senders. Vor der Arbeit surfen und nachts für reisende Filmproduzenten auf die Wohnung aufpassen: Das Leben von Mycoskie schien wie eine Fantasie Zwanzigjähriger, aber sie war frustriert, weil sie sich von den kreativen Leidenschaften ihrer Kindheit entfernt hatte. Also kündigte sie ihren Job in der Glitzerwelt, um sich auf die Fotografie zu konzentrieren. Sie ergänzte ihre Auftritte bei Hochzeiten und ihre Porträt­fotografie mit Teilzeitarbeit in einem kleinen Surfshop in Venice Beach – dort entdeckte Mycoskie ihre Liebe zum Einzelhandel. Mit einem Geburtstagsgeschenk ihrer Großeltern im Wert von 200 US-$ und einer Reihe von Anleitungs-DVDs kaufte sie sich ihre erste Nähmaschine und begann, in Secondhandläden gekaufte Hemden auseinanderzunehmen und mit ihren eigenen handgestickten Motiven wieder zusammenzusetzen. Da Mycoskie keine formale Ausbildung hatte, war die Kleidung, die sie herstellte, einfach. Sie schnitt einzelne Streifen oder Sonnenstrahlen-Emojis aus und nähte sie auf den Stoff; eine Technik, die als Applikation bekannt ist und die auch heute noch für die meisten Kleidungsstücke von Aviator Nation verwendet wird, darunter auch für die charakteristischen Streifen der Marke. Obwohl die Kleidungsstücke unkompliziert waren, stießen sie auf große Resonanz, wenn Mycoskie sie in der Öffentlichkeit trug. „Ich ging in den Lebensmittelladen und die Leute fragten: ,Was haben Sie denn da an?‘ Es dauerte nicht länger als eine Woche, in der ich die Sachen trug, bis ich dachte: ,Ich sollte das verkaufen!‘“ Für ihre Eltern war das alles nicht über­raschend – sie sagen, dass Paige schon als Kind ständig mit dem Gedanken spielte, Geld zu verdienen, sei es mit einem Limonadenstand auf dem örtlichen Golfplatz (damit verdiente sie Hunderte Dollars pro Tag) oder mit dem Verkauf von selbst gemachten Freundschaftsarmbändern. „Es hat ihr immer Spaß gemacht, Dinge zu verkaufen“, sagt ihre Mutter Pam Mycoskie. Der erste Versuch der jungen Paige, die neu gegründete Aviator Nation zu Geld zu machen – der Name wurde von der klassisch-coolen Sonnenbrille inspiriert, die Tom Cruise im Blockbuster „Top Gun“ trug –, war ein voller Erfolg. Nachdem sie monatelang in…