Von Axel Lier
“Notruf der Berliner Feuerwehr, wo genau ist der Einsatzort?” Feuerwehrchef Bülent Cam (45) sagt diesen Satz bis zu 100 Mal am Tag. Er und seine 44 Kollegen arbeiten in der Leitstelle. Dort gingen im vergangenen Jahr über eine Million Notrufe unter der 112 ein. Im Durchschnitt klingelt das Telefon alle 29 Sekunden. Cam hilft Menschen, die Hilfe brauchen. Doch sein Arbeitgeber, die Feuerwehr, ist längst zum Notfall geworden. Und das Kontrollzentrum ist so etwas wie ein Vergrößerungsglas der Autorität. Von hier aus wird fast täglich der Notstand an die Einsatzkräfte ausgerufen. 2020 nur 64 Mal, ein Jahr später 178 Mal. In diesem Jahr sind es bisher über 170. “Notruf der Berliner Feuerwehr, wo genau ist der Einsatzort?” Feuerwehrchef Bülent Cam (45) nimmt pro Schicht bis zu 100 Notrufe entgegen Foto: Parwez Für Berliner und Touristen bedeutet das: Es gibt Zeiten, in denen in der Hauptstadt keine Krankenwagen mehr zur Verfügung stehen. Es fehlt an Personal, Nachwuchs, Material – und immer öfter an Motivation. Macht kocht. Daher findet am Montag eine Notfallsitzung des Personals statt. Thema 1: „Aktuelle Situation im Rettungsdienst“. Sie wollen auch, dass die Behörden Stellung beziehen.
492.226 Sendungen im Corona-Jahr 2021
Auch Brandoberrat Markus Wiezorek (32) ist einer der Bosse. Er leitet das Kontrollzentrum. Er sagt: “Die Bevölkerung altert, die Bevölkerung individualisiert sich, die Bevölkerung wächst.” Er bleibt einen Moment stehen. “Aber die Feuerwehr wird nicht genug entwickelt.” Das beweisen auch die Beweise. Trotz Pandemie musste das Militär im vergangenen Jahr 492.226 Mal zum Einsatz kommen – so viele wie noch nie in seiner 170-jährigen Geschichte. Wer tut es für ihn? 33 Leitstellenmitarbeiter sind elf Stunden am Tag im Einsatz, 32 Kollegen 13 Stunden in der Nacht. Es wurden nur wenige Brände gemeldet, hauptsächlich medizinische Notfälle. Mittags gibt es längere Wartezeiten auf den Notruf und oft wird mittags der Notstand ausgerufen. Warum; Brandoberrat Markus Wiezorek (32) leitet die Leitstelle. Er sagt: Die Stadt wächst – die Feuerwehr reicht leider nicht aus Foto: privat „Dann gibt es weniger als 25 kostenlose Krankenwagen für die ganze Stadt“, erklärt Wiezorek. Grundbedarf in Berlin sind 140 Krankenwagen. Hinzu kommen viele „temporäre Stillstandszeiten“, zum Beispiel wenn ein Krankenwagen nach dem Transport gereinigt werden muss. Auch die Einschätzung der Lage ist negativ: Die Ankunftszeiten werden länger, Notrufe nehmen zu, Demonstrationen sorgen für große Umwege und Einsätze, die Hitze macht den Berlinern zu schaffen. Auf die Frage, ob er nur die Krise managt, antwortet Brandoberrat: „Ich gestalte die Krise.“ Auch “SNAP” ist seit Jahren Teil dieser Krise.
„Ich gestalte die Krise“
Stefan Polocek ist Ärztlicher Leiter beim Rettungsdienst. Er möchte jeden Kollegen persönlich vom SNAP-Computing-System überzeugen Foto: Parwez
Es stellt ein standardisiertes Notrufabfrageprotokoll dar. 2005 wurde das Computersystem in der Leitstelle eingeführt. Es stellt den Beamten standardisierte Grundfragen, auf deren Grundlage letztendlich Einsatzkräfte entsandt werden. Leider und für Gaga-Meldungen wie „Ich brauche Hilfe beim Anziehen“, leichte Bauch- oder Rückenschmerzen, oder der Anrufer will eine kostenlose Fahrt zum Rettungszentrum. „Es gibt Leute, die wissen genau, welche Stichworte sie im Notruf sagen müssen, damit wir einen Krankenwagen schicken können“, sagt Leitstellenleiter Wiezorek. Ist SNAP also das Problem? „Ich bin davon überzeugt, dass SNAP richtig und wichtig ist“, sagt Stefan Poloczek, Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes. Die Software bietet Rechtssicherheit gegen Haftungsansprüche. „Wir mussten seit Jahren keinen Mitarbeiter mehr entlassen, weil wir SNAP haben“, sagt er. Die Situation im Rettungsdienst entlädt sich diesmal auf den Schultern der Arbeiter. Die Leitstelle ist “das Wartezimmer der Stadt”. Er leide unter massiver Systemkritik und würde am liebsten jeden Kollegen von der Notwendigkeit von SNAP überzeugen, sagt Poloczek. Nicht jede Sendung wird verschickt, täglich gehen mehr als 100 Notrufe bei der Kassenärztlichen Vereinigung ein. Die Anzeigetafel in der Leitstelle zeigt die Auslastung der Krankenwagen und die durchschnittliche Ankunftszeit an. Foto: Parwez Aber das System hat Schwächen. Wenn es in einer Stadt mit 3,7 Millionen Einwohnern keine kostenlosen Krankenwagen mehr gibt, wer bekommt dann einen Herzinfarkt oder einen Unfall? „Lebensbedrohliche Notfälle haben immer Vorrang“, verspricht Poloczek. Wenige Stunden später musste die Leitstelle den Rettungsdiensten erneut den Notstand melden. Mittag und Abend.